Als erste Frau der Westschweiz seit über 20 Jahren erhält sie den eidgenössischen Fachausweis als Netzspezialistin. Ein Treffen mit Lucie Nicollin.

«Es war völlig klar, dass ich einen technischen Beruf wählen würde», so Lucie Nicollin, 29 Jahre, Projektleiterin und Netzspezialistin MS/NS im Centrex in Corcelles (NE). Besonders die technischen und handwerklichen Aspekte sowie Mathematik und Teamarbeit haben es ihr angetan. Sie findet eine Lehrstelle als Netzelektrikerin bei einem anderen Unternehmen. Den EFZ meistert sie 2012 mit Bravour: als erste Frau im Kanton Waadt und als zweite in der Westschweiz. Sie leistet zweifellos Herausragendes in ihrem Bereich. Aber die Dinge sind nicht immer einfach: «Als Frau muss ich doppelt beweisen, dass ich es kann», räumt sie ein. In der Vergangenheit erlebte Lucie Nicollin gelegentlich auch Sexismus durch Kollegen, liess sich dadurch jedoch nicht entmutigen.

Ganz im Gegenteil, sie zeigte Beharrlichkeit. Die Arbeit ist körperlich anstrengend – während ihrer Ausbildung lernte sie beispielsweise, auf Leitungsmasten zu klettern. Aber Lucie Nicollin erklärt, der körperliche Aspekt sei eine Frage des Trainings. Neben ihrer Arbeit als Netzelektrikerin schult sie Lernende im Rahmen praktischer Kurse am Westschweizer Ausbildungszentrum für Netzelektriker/Netzelektrikerinnen (CIFER) in Penthalaz (VD). Sie besitzt auch eine Zulassung als Berufsbildnerin.

Ein Anruf von Groupe E

«Eines Tages klingelt mein Telefon. Groupe E will mich einstellen», erinnert sie sich lächelnd. Der Anruf lohnt sich: Lucie Nicollin startet im Juni 2017 als Projektleiterin – Netzspezialistin MS/BS und wechselt von der Baustelle ins Büro. Eine neue Herausforderung! Sie ist zuständig für den Netzbetrieb von rund 10 Ortschaften und muss verschiedene Investitionsprojekte vorbereiten, sie kalkulieren, Varianten vorschlagen und für die gewählte Variante einen Ausführungsplan erstellen. Sie beauftragt externe Unternehmen, wie das Tiefbauamt, übernimmt Materialbestellungen und koordiniert die Arbeiten mit den verschiedenen Beteiligten. Sie beantragt die diversen Genehmigungen bei Privatpersonen, Gemeinden oder dem Kanton und bereitet die Unterlagen für das eidgenössische Inspektorat vor. Sie organisiert auch Notariatsleistungen, wenn Leitungen über private Grundstücke verlaufen, und leistet Pikettdienste.

Anhaltende Vorurteile

Im Juni 2019 beginnt sie ihre Ausbildung zur Netzspezialistin Projekte und Betrieb mit eidgenössischem Fachausweis. «Eigentlich sollte sie zwei Jahre dauern, doch wegen Corona dauert sie länger», erklärt die junge Frau. Eine weitere Herausforderung! Ihre Arbeit im Büro setzt sie fort. «Manchmal fragen mich andere Handwerker auf der Baustelle, ob mir mein Praktikum gefalle», sagt Lucie Nicollin, die über solche Vorurteile inzwischen lacht.

Ende November 2021 erhält sie – als erste Frau seit 22 Jahren in der Westschweiz – ihren eidgenössischen Fachausweis. Laut Lucie Nicollin beginnen nur wenige Frauen eine Ausbildung zur Netzelektrikerin und die meisten verlassen das Berufsfeld spätestens nach Erhalt des EFZ. Es brauche Charakterstärke, um in diesem Beruf zu arbeiten, meint sie, und man müsse lernen, gegen die Vorurteile anzukämpfen. «Bei Groupe E habe ich eine Frau zur Vorgesetzten. Bevor ich hier anfing, war ich noch keiner anderen Frau in diesem Beruf begegnet. Das hat mir Mut gemacht», so Lucie Nicollin, die sich freut, das im Rahmen des EFZ Gelernte in die Praxis umsetzen zu können. Später möchte sie sich vielleicht weiterbilden und das eidgenössische Meisterdiplom als Netzelektrikerin erwerben.

Lucie Nicollin im Lager des Betriebszentrums in Neuenburg.

Groupe E Rédaction

Text : Aline Beaud

Fotos: Quentin Bacchus